Initiative Herkesin Meydani
In Sichtweite des Friseursalons, vor dem 2004 eine Bombe des NSU in Köln explodierte, wird ein Mahnmal errichtet. Das hat der Rat der Stadt am 9. November 2021 beschlossen, und das NS-Dokumentationszentrum soll gemeinsam mit Betroffenen, Initiativen und dem beauftragten Künstler ein Konzept dafür entwickeln.
Bereits 2001 war bei einem Nazi-Anschlag in der Kölner Probsteigasse die Tochter eines Einzelhändlers schwer verletzt worden. Die Vermutungen der Betroffenen, dass die Bombenleger Nazis gewesen sein müssen, und ihre Klagen über die Täter-Opfer-Umkehr wurden jahrelang nicht gehört. Ermutigt von der Initiative „Dostuk Sinemasi“ haben Betroffene aus der Keupstraße 2013 erstmals öffentlich darüber berichtet, wie der Anschlag seine ganze Zerstörungsgewalt erst durch die „zweite Bombe“ entfalten konnte: durch die Polizeiermittlungen und die diskriminierende Berichterstattung. In den folgenden Jahren fanden auch andere Betroffene rassistischer Gewalt den Mut, über ihre Erfahrungen und ihre Geschichte zu sprechen. Seitdem fordern sie gemeinsam Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und politische Konsequenzen.
Nach der Selbstenttarnung des NSU Ende 2011 wurde in Köln erstmals die Forderung nach einem Gedenkort in direkter Nachbarschaft zur Keupstraße laut. Im Dezember 2015 beschloss der Rat der Stadt, „in der Keupstraße beziehungsweise in ihrer unmittelbaren Nähe ein Denkmal zu errichten“, und lobte einen künstlerischen Wettbewerb zur Findung eines geeigneten Entwurfs aus. Schließlich einigte sich die Jury, darunter Bewohner:innen der Keupstraße, Betroffene der Bombenanschläge und Stadtteilinitiativen, einvernehmlich auf den Entwurf des Berliner Künstlers Ulf Aminde für einen interaktiven Gedenkort, der an eben jener Ecke Keupstraße/Schanzenstraße entstehen soll. Doch was so hoffnungsvoll begann, geriet alsbald ins Stocken. Die Eigentümer des Geländes wollten davon nichts wissen und auf dem Gelände ein Geschäftszentrum errichten, ein lukratives Investment in einem besonders von Gentrifizierung bedrohten Stadtteil am Rhein. Mit dem lapidaren Verweis darauf, dass der gewünschte Standort Privateigentum sei und die Kommune somit keine Handlungsmöglichkeiten habe, stahlen sich die Kölner Politiker:innen und die Verwaltung lange aus der Verantwortung für die Umsetzung des Ratsbeschlusses von 2015. Es dauerte weitere sechs Jahre bis zum erneuten Ratsbeschluss am Jahrestag der Reichspogromnacht 2021.
2018 brachte die Initiative, die das Tribunal NSU-Komplex auflösen in Köln veranstaltet hatte, die Sache wieder ins Rollen. Gemeinsam mit der Interessengemeinschaft Keupstraße und der Initiative „Keupstraße ist überall“ lud sie den Sprecher der Investorengruppe zu einer Podiumsdiskussion mit dem Pädagogen und Publizisten Micha Brumlik und dem Künstler Ulf Aminde ins VHS-Forum im Rautenstrauch-Joest-Museum. Weil die Eigentümer absagten, blieben die Befürworter des Mahnmals unter sich, und so fiel der öffentliche Streit aus. Im Jahr darauf verfasste Aminde gemeinsam mit anderen Künstler:innen und Kulturschaffenden aus dem In- und Ausland einen offenen Brief an Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Doch der Appel blieb ungehört. Im Sommer 2019 gelang Aminde gemeinsam mit der neu gegründeten Initiative „Herkesin Meydanı – Platz für Alle“ schließlich doch ein Coup, als der Künstler eine unscheinbare, hell beschichtete Holzplatte im Foyer des Museums Ludwig ausstellte. Bei der Präsentation des Modells des Mahnmals im Maßstab 1:10 kam es zu einem erbitterten Wortgefecht zwischen Vertreter:innen der Initiative, dem Künstler und einem Reporter des Kölner Stadtanzeigers über die Frage, ob private Interessen von Investoren Vorrang vor dem öffentlichen Interesse nach einem Gedenkort haben. Am Tag darauf war die Kontroverse ausführlich in der Zeitung nachzulesen. Auch andere Medien berichteten über das Ereignis. Das Mahnmal sei kein Geschenk für die Bewohner:innen der Straße, sondern für unsere Stadt, die ganze Gesellschaft, zitierte der Stadtanzeiger Mitat Özdemir von der Initiative „Herkesin Meydanı“. Er forderte die Stadtspitze auf, die Angelegenheit endlich zur Chef:innensache zu machen.
Kurz darauf lancierte die Initiative einen weiteren offenen Brief an die Oberbürgermeisterin, den weitere Initiativen und viele Einzelpersonen unterzeichneten: „Statt das Mahnmal mit Nachdruck und Engagement an dem ursprünglich vorgesehenen und von den Betroffenen geforderten Platz zu realisieren, gibt es einen Kniefall vor den Investoren“, hieß es darin. Die Stadtverwaltung habe Spielräume, den Gedenkort an der Keupstraße zu realisieren, und sie möge diese endlich nutzen. Die Unterzeichner:innen unterstützten die Forderung der Initiative nach einem Bebauungsplan, der den „Platz für Alle“ an der Keupstraße/Ecke Schanzenstraße als Standort für das Mahnmal festschreiben sollte. Im Falle eines Verkaufs möge die Stadt ihr Vorkaufsrecht geltend machen und die für den Gedenkort notwendige Fläche erwerben. Diese realpolitischen Vorschläge wurden in der Öffentlichkeit tatsächlich wahrgenommen und ließen die Stadtspitze schlecht aussehen. So geriet die Verwaltung erstmals unter Druck, weil der Kern des Konflikts offen auf dem Tisch lag, wonach privaten Interessen gegenüber dem öffentlichen Interesse nach einem Statement der Stadtgesellschaft gegen Rassismus Vorrang eingeräumt wurde. Am Jahrestag des Nagelbombenanschlags 2020 berichtete Meral Sahin vor über 600 überraschten Teilnehmer:innen der jährlichen Gedenkkundgebung an der Keupstraße, Oberbürgermeisterin Reker habe ihr versichert, dass die Stadt das Grundstück gegenüber der Keupstraße erwerben wolle, um das Mahnmal dort zu bauen.
Jetzt war der Zeitpunkt günstig, den Druck auf die Stadt weiter zu erhöhen. Die große Empörung über den Anschlag von Hanau und die Massendemonstrationen von Black Lives Matter hatten die Hoffnung aufkeimen lassen, dass sich endlich mehr Menschen in Köln für das Mahnmal einsetzen würden. Deshalb organisierte „Herkesin Meydanı“ gemeinsam mit anderen Gruppen vom Sommer bis zum Herbst 2020 an der Keupstraße regelmäßige Liveacts gegen Rassismus, um den Ort schon jetzt zu einem „Platz für Alle“ zu machen. Namhafte Künstler:innen wie Esther Dischereit, Dogan Akhanli, Henning May, Tice, Ester Bejerano und Microphone Mafia sowie Fatih Çevikkollu traten dort auf. So blieb das Thema vor der Kommunalwahl 2020 im Gespräch. Aus gut unterrichteten Kreisen erfuhr die Initiative wenig später, dass die Eigentümer:innen des umkämpften Grundstücks in Verkaufsverhandlungen mit der Düsseldorfer Gentes Gruppe stünden. Für diese Insiderinformation interessierte sich nun auch der Kölner Express, der mehrfach über den Konflikt berichtet hatte. Ein Anruf eines Reporters veranlasste das OB-Büro, aktiv zu werden. Schließlich stand die Behauptung im Raum, Henriette Reker, die kurz vor der Stichwahl stand, habe ihr Versprechen gegenüber der IG Keupstraße gebrochen, das Gelände zu kaufen. Sie beraumte eilig eine Besprechung mit Vertreter:innen von Initiativen an, bei der sie die Verwirklichung des Mahnmals am gewünschten Ort zusagte. Doch in der anschließenden Pressemitteilung war davon keine Rede mehr.
Aus der Presse war Anfang Dezember 2020 zu erfahren, dass die neue Eigentümerin in der Bezirksvertretung Mülheim eine Bauvoranfrage für einen konkreten Entwurf für das Mahnmal zur Abstimmung vorlegen würde. Ganz offensichtlich sollte im Eiltempo und ohne Einbeziehung der Öffentlichkeit etwas beschlossen werden, um den Konflikt vom Tisch zu bekommen, ein schlechter Kompromiss. Allerdings spiegelt er die politischen Kräfteverhältnisse in der Stadt wider, in der die Partikularinteressen von Investoren Vorrang haben.
Die Erinnerungspolitik in der postmigrantischen Gesellschaft lebt davon, dass viele Menschen sich auf eine Debatte über Rassismus einlassen. Es ist ersichtlich, dass sich die Betroffenen von rassistischer Gewalt die Erinnerung selbst aneignen müssen und dabei auf solidarische Menschen in der Stadtgesellschaft angewiesen sind. Der Platz an der Keupstraße, an dem das Mahnmal entstehen wird, ist schon jetzt ein wichtiger Treffpunkt für die antirassistische und antifaschistische Szene Kölns. So wird die offizielle Erinnerungskultur von einer migrantischen, antirassistischen und antifaschistischen Minderheit herausgefordert. „Meine beiden Kinder sind in Deutschland geboren“, sagt der Friseur von der Keupstraße. „Sie werden hier ihr Leben leben. Ich hoffe, dass ihnen so etwas nie passieren wird, und wenn dies der Fall ist, sollte niemand mit Vorurteilen konfrontiert werden! Ich möchte nicht als Mafiosi oder Terrorist angesehen werden. Was das Denkmal betrifft, denke ich, dass es eine gute Sache ist. Vergesst nicht! Es soll immer im Gedächtnis bleiben, es soll ein Fragezeichen sein! Die nächste Generation muss ihre Rechte einfordern! Wir hatten niemanden, der uns am Arm hielt und unterstützte!“ Wie nah Vergessen und Erinnern beieinanderliegen zeigt die Situation der Jugendlichen im Viertel, die nach dem Anschlag geboren wurden. Sozialarbeiter:innen berichten, dass sie nichts über den NSU wussten und erst durch ein Erinnerungsprojekt in der Jugendeinrichtung davon erfuhren. In den Schulen sei das kein Thema. Insofern kann das virtuelle Archiv über die Geschichte der Straße und die Kämpfe gegen Rassismus, das am Mahnmal vom Smartphone abrufbar sein wird, diese Lücke füllen und das Mahnmal eine emanzipatorische Wirkung entfalten.
Das Mahnmal soll die Perspektive der Betroffenen ins Zentrum stellen, und es bietet die Chance, der jahrelangen Stigmatisierung der Tatorte und ihrer Bewohner:innen zumindest symbolisch etwas entgegenzusetzen. Es ist aber zu bezweifeln, dass die Gesellschaft die Lektion wirklich verstanden hat. Denn die Orte, an denen Menschen arbeiten oder einfach nur chillen, die als die anderen stigmatisiert werden, werden immer wieder angegriffen, zuletzt in Halle, Hanau und Köln Porz. Trotzdem macht dieser kleine Erfolg im Kampf gegen Rassismus Mut. „Das Mahnmal wird unser Symbol sein, und es wird kommen. Ich habe einen Traum, über den ich hier immer gesprochen habe. Eines Tages werden Menschen Busse mieten, um es hier besuchen zu können“, erzählt Mitat Özdemir. Ob sein Traum Wirklichkeit wird, ist offen, denn der Rat der Stadt hat bisher nur unzureichende Mittel für die Realisierung des Vorhabens bewilligt, und so wird es darauf ankommen, dass Betroffene und Initiativen weiterhin genügend Druck machen, um ein würdiges und zeitgemäßes Gedenken in Köln zu ermöglichen.
Initiative „Herkesin Meydanı – Platz für Alle“
Eine Kurzfassung des Textes ist in einer Sonderbeilage für die taz erschienen am 18.05.2022. Das PDF zur taz-Sonderbeilage kann <hier> heruntergeladen werden.