POLITIKEN DER ZEUGENSCHAFT UND DES ERINNERNS

Vassilis Tsianos und Sabine Hess

Es war nicht das erste Mal in der postkolonialen Geschichte Europas, dass Archive vernichtet oder versteckt wurden, die den ehemaligen kolonialen Subjekten den Zugang zu Rechtsansprüchen eröffnet hätten. So gestand die britische Regierung erst 2013 ein, dass beim Rückzug aus Kenia 1963 umfangreiche Aktenbestände der Kolonialverwaltung nach England verbracht und dort in Geheimarchiven eingelagert wurden. Insbesondere handelte es sich dabei um Akten, die die exzessive Gewaltanwendung im Zuge der Niederschlagung der Mau-Mau-Revolte dokumentierten. Erst durch ein transnationales Bündnis von NGOs, Rechtsanwält:innen und Historiker:innen war es gelungen, ein Eingeständnis der Existenz des Archives zu erzwingen und durchzusetzen, dass mehr als 5000 kenianische Staatsbürger:innen für das erlittene Unglück entschädigt wurden.

Die Rettung von Archiven, von verschütteten und aktiv vergessen gemachten Geschichten ist eminent politisch. Auch die deutsche Geschichte zeichnet sich bislang durch einen doppelten rassistischen Ausschluss aus: von Leben, die im nationalen Leitnarrativ bis heute und immer wieder aufs Neue als nicht-zugehörig (anders) markiert werden, sowie der Geschichte(n) und Stimmen, die über diesen Ausschluss Zeugenschaft ablegen (könnten).

Unter dem Motto „Ver/sammeln antirassistischer Kämpfe“ haben wir – eine Kooperation aus Wissenschaft, Kulturbetrieb und Aktivismus – vor einem knappen Jahr angefangen, die reichhaltige(n) Geschichte(n) des Widerstands gegen Rassismus und Antisemitismus in Ost- und Westdeutschland gemeinsam zu erinnern, zu sammeln und zu archivieren. Dabei verstehen wir das Sammeln und Zusammentragen von Geschichten zu einem gemeinsamen Tableau antirassistischer Kämpfe selbst als antirassistischen Akt. Dieser bricht nicht nur mit den Politiken des Beschweigens, Bagatellisierens und Entnennens von Rassismen, welche die deutsche Debatte so zentral kennzeichnen (siehe Umgang mit dem NSU, Hanau etc.). Er bricht auch mit einer weiteren zentralen produktiven Macht rassistischer Artikulationen: der Differenzierung und Hierarchisierung in vermeintlich (genetisch, emotional, kulturell, sittlich etc.) unterschiedlich gelagerte Gruppen.

Gemeinsames Erinnern war Anfang des Jahres das Projekt der Jüdischen Studierenden Union Deutschland (JSUD) und der Organisation Sinti und Roma Pride. Sie haben in 15 Städten Plakate an Orten aufgehängt, auf die bislang keine Gedenktafeln oder Stolpersteine hinwiesen: jüdische sowie Sinti:zze und Rom:nja-Kaufhäuser, Einrichtungen und Wohnorte. Das gemeinsame Erinnern ist hier, wie in vielen anderen Kontexten, in denen sich Überlebenden-Communitys und Hinterbliebene rassistischer Gewalt das Recht zum öffentlichen Erinnern nehmen, Ausdruck antirassistischer Handlungsfähigkeit. Doch wo führt uns diese Spur antirassistischer Allianzen hin? Für das Projekt „Ver/sammeln antirassistischer Kämpfe“ haben wir einzelne Personen, Bewegungen und Gruppen quer durch die Zeiten in Ost- und Westdeutschland aufgesucht. Dabei war unser Ausschwärmen von Anfang an durch ein multi-perspektivisches Vorgehen geprägt, welches die Vielheit der Erfahrungen mit Rassismus und Antisemitismus und damit auch der Kämpfe angesichts der deutschen und europäischen Geschichten der gewaltvollen und teils vernichtenden Produktionen von „Anderen“ anerkennt. Auch wenn die Erfahrung von Konflikten, Brüchen und mangelnder Solidarität oftmals die Erzählungen von Bewegungsgeschichten kennzeichnet, haben wir den Blick auf Verbindungen gelegt. Im Sinne einer Co-Artikulation von Geschichten konnten wir sehr diverse Erinnerungssplitter zusammentragen, die von unterschiedlichsten Betroffenheiten, Schmerzen, Ausschlüssen und Hierarchisierungen berichten, aber auch von der Zärtlichkeit der gegenseitigen Anteilnahme und teils unerwarteter Solidaritäten.

Doch die erinnerungspolitische Schwierigkeit der geteilten Erinnerung antirassistischer Kämpfe hat System. So zeigt David Theo Goldberg (2009), dass Rassismen der Gegenwart nicht nur dominanz-kulturelle Formate des „Anders-Machens“ institutionalisieren. Vielmehr geht mit der Kultur des Silencings von Rassismus auch eine Verleumdung antirassistischer Kämpfe einher. Allianzen werden geleugnet und das auseinandergebracht, was als Widerstand gegen Rassismus zusammengehört. Die globale Resonanz der „Black Lives Matter“-Bewegung markiert auch dahingehend einen Bruch. Sie hat einen neuen globalen Zyklus von antirassistischen Kämpfen hervorgerufen. Dabei geht es heute nicht mehr (nur) um Kämpfe der Sichtbarmachung, sondern des aktiven Dagegen-Sprechens (talking against), des Widerspruchs und des Widerstreits, nicht auf diese Weise regiert zu werden, nicht auf diese Weise zu rassifizierten Objekten von Polizei und anderen Institutionen zu werden, nicht auf diese Weise verleugnet und nach der Tat das zweite Mal entwürdigt zu werden. Eine neue antirassistische Ökologie des Erinnerns tritt an: eine Politics of Voice. (→ siehe Assembly im HAU 19.–21.5.2022 und Offenes Archiv im FHXB-Museum).

Der Beitrag ist als Einleitung zu einer Sonderbeilage für die taz erschienen am 18.05.2022. Das PDF zur taz-Sonderbeilage kann <hier> heruntergeladen werden.